Zu viele Todesfälle, zu wenig Kontrolle: Warum Corona immer noch ein globales Problem ist
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Besucher mit Gesichtsmasken spazieren am ersten Tag des Mondneujahrsfestes in Peking durch die Fußgängerzone Qianmen.
© Quelle: Andy Wong/AP/dpa
Genf. Die Corona-Pandemie bleibt eine Notlage von internationaler Tragweite. Das gab der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, am Montag in Genf bekannt. Nicht nur er war zu diesem Schluss gekommen, sondern auch das für Corona eingesetzte International Health Regulations Emergency Committee.
Die Pandemie sei zwar „an einem Übergang“, sagte Ghebreyesus, allerdings würden nach wie vor zu viele Menschen im Zusammenhang mit dem Erreger sterben. In den vergangenen acht Wochen zählte die WHO rund 170.000 Todesfälle weltweit. Zudem würden Gesundheitsbehörden die Verbreitung des Virus weniger genau überwachen, während medizinische Einrichtungen weiterhin vielerorts überfordert seien. Das Expertenkomitee forderte Staaten dazu auf, langfristige Maßnahmenpläne zu erstellen, um Infektionen vorzubeugen, zu überwachen und zu kontrollieren.
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Gesundheitsnotlage ist reine Formsache
Es war nicht die Nachricht, mit der der WHO-Chef eigentlich an die Öffentlichkeit gehen wollte. Noch im Dezember vergangenen Jahres hatte er gesagt, er hoffe, 2023 verkünden zu können: „Dies ist keine Pandemie mehr.“ Damals gab es durchaus Grund zur Hoffnung, dass sich dieser Wunsch bald erfüllen könnte. Die weltweiten Corona-Fallzahlen stabilisierten sich, weniger Menschen erkrankten schwer oder verstarben an einer Infektion mit dem Virus. Die Pandemie ebbte ab. Die Länder waren dank Schutzmaßnahmen, Medikamenten und Impfstoffen in der Lage, mit dem Coronavirus fertigzuwerden – anders als noch zu Beginn der Pandemie. Die Welt schien zum Normalzustand zurückzukehren, das Virus mehr und mehr an Schrecken zu verlieren.
Inzwischen hat sich die weltweite Corona-Lage weiter beruhigt. In Deutschland sprechen führende Expertinnen und Experten bereits von einer nahenden Endemie; Österreich will noch in diesem Jahr alle Schutzmaßnahmen aufheben; Australien hat erstmals auch Corona-Infizierten erlaubt, an den Australian Open teilzunehmen. Doch eben nicht überall ist das Virus keine Gefahr mehr.
Und längst ist klar: Verschwinden wird Corona nicht mehr. Selbst wenn die WHO die Gesundheitsnotlage irgendwann beendet. Diese ist ohnehin nur Formsache, ein symbolischer Akt. Die verhängte Alarmstufe hat keine direkte Folgen für die Pandemiebekämpfung, sondern soll Regierungen und die Öffentlichkeit lediglich für das Virus sensibilisieren. Auch ein Ende des Notstands würde also bedeuten: Es wird immer wieder Menschen geben, die sich mit dem Erreger infizieren, schwer erkranken, sterben. Es wird immer wieder Infektionswellen geben, vor allem in den Wintermonaten, die aber nicht mehr so dynamisch sein werden wie noch am Anfang der Pandemie. Und es wird immer wieder Länder geben, die stärker vom Virus betroffen sind als andere.
Zurzeit sind es China und die USA. China erlebt eine Flut an Infektionen, nachdem die Regierung überraschend alle Null-Covid-Maßnahmen beendet hatte. Dadurch haben sich bis jetzt etwa 80 Prozent der Chinesinnen und Chinesen mit dem Coronavirus infiziert, schätzt der US-Epidemiologe Wu Zunyou. Das wären mehr als eine Milliarde Menschen. Die gute Nachricht ist: Die Infektionswelle hat Modellrechnungen zufolge mittlerweile ihren Höhepunkt erreicht, sodass die Zahlen bald wieder sinken könnten. In den USA ist es wiederum die Variante XBB.1.5, die das Infektionsgeschehen anfacht. Sie macht knapp die Hälfte aller Ansteckungen im Land aus und gilt als leicht übertragbar und immunflüchtig.
Long Covid und Impfstoffverteilung bereiten Probleme
Was auch bleiben wird, ist Long Covid, also die Spätfolgen einer Corona-Erkrankung. Die Liste an Symptomen, die nach einer Infektion andauern können, ist lang. Darauf stehen zum Beispiel Kurzatmigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, chronische körperliche und geistige Erschöpfung – Fatigue genannt –, oder Muskel- und Gliederschmerzen. Wie lange die Beschwerden anhalten, wie sie entstehen, wie stark sie auftreten und wer besonders betroffen ist – dazu gibt es keine eindeutigen Antworten. Klar ist aber: Für Long Covid gibt es kein Allheilmittel. Bei einigen Symptomen ist sogar nicht sicher, ob sie sich überhaupt je wieder heilen lassen. Einige Experten und Expertinnen sprechen von einer neuen Volkskrankheit. Denn schätzungsweise 10 Prozent der Corona-Infizierten entwickeln Langzeitfolgen. Die WHO geht europaweit von mindestens 17 Millionen Betroffenen aus.
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Bundestag debattiert Long Covid und ME/CFS – und Betroffene schöpfen Hoffnung
Erstmals wird Donnerstag im Bundestag über das Thema ME/CFS- und Long-Covid-Betroffene debattiert. Über eine Million Deutsche sind inzwischen von der Krankheit betroffen, für die es weder Medikamente noch ausreichend Forschung gibt. Betroffene setzen Hoffnung in die Parlamentarier.
Ein weiteres Problem ist die Impfstoffverteilung. Vor allem ärmere Länder hätten nicht genügend Corona-Impfstoffe, merkte Timo Ulrichs an. „Betrachtet man die anhaltenden Beeinträchtigungen der Gesundheitsversorgung vieler Menschen durch die Pandemie, ist dieser Umstand eigentlich Grund genug, immer noch von einem Notstand zu sprechen“, sagte der Epidemiologe von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Dass in Risikogruppen weltweit sowie in ärmeren Ländern noch nicht viele Menschen gegen Covid-19 geimpft sind, treibt auch die WHO um. „Es besteht wenig Zweifel, dass dieses Virus für die absehbare Zukunft dauerhaft ein menschlicher und tierischer Krankheitserreger bleiben wird.“
Epidemiologe: Stufensystem für Gesundheitsnotlage etablieren
Nicht zu unterschätzen ist vor allem die Signalwirkung, die von der WHO-Entscheidung ausgeht. Die Organisation ist eine globale Gesundheitsinstanz, die hohes Ansehen in der Welt genießt. Ihre Entscheidungen sind richtungsweisend. Als die WHO am 30. Januar 2020 den Gesundheitsnotstand ausrief, war das ein Meilenstein im Verlauf der Corona-Pandemie. Das Virus wurde – ganz offiziell – zu einer ernstzunehmenden Gefahr. Und auch von der jetzigen Entscheidung geht eine zentrale Botschaft aus: Es wäre falsch, Corona auf die leichter Schulter zu nehmen.
Ein Ende der Notlage sei das falsche Signal, meint Friedemann Weber. „Ich fürchte, dass ein offizielles Beenden der ‚Notlage von internationaler Tragweite‘ dazu führt, dass das Virus noch weniger ernst genommen wird und die einfachsten Schutzregeln über Bord geworfen werden“, sagte der Leiter des Instituts für Virologie an der Justus-Liebig-Universität Giessen im Vorfeld der WHO-Entscheidung. Er hätte es besser gefunden, wenn die Organisation mit dieser Diskussion bis zum Frühjahr gewartet hätte.
Die Gesundheitsnotlage verpflichtet zudem alle WHO-Mitgliedstaaten, sich bei der Eindämmung der Pandemie gegenseitig zu helfen. Allein deshalb wäre das Ende der Alarmstufe kein gutes Signal gewesen, sagte Epidemiologe Ulrichs. Er kritisierte, dass die Entscheidung eine „0-1-Anlegenheit“ sei, es also keine Abstufungen gibt. „Vielleicht sollte über die Einführung von drei oder besser fünf Stufen nachgedacht werden, die mit Indikatoren versehen werden, nach denen eine Hoch- beziehungsweise Runterstufung erfolgen könnte.“ Dann wäre Ghebreyesus seinem Wunsch, die Pandemie zu beenden, zumindest ein paar Stufen nähergekommen.