„Schweinerei“ und Trump-Vergleiche

Emotionale Wahlrechtsdebatte: Wenn die Union plötzlich der Linken applaudiert

Alexander Dobrindt CSU, aufgenommen im Rahmen der Debatte zur Änderung des Bundeswahlgesetzes im Deutschen Bundestag.

Alexander Dobrindt CSU, aufgenommen im Rahmen der Debatte zur Änderung des Bundeswahlgesetzes im Deutschen Bundestag.

Berlin. Dass diese Bundestagsdebatte nicht so war wie jede andere, konnte man nicht zuletzt an den verkehrten Fronten erkennen. So machte sich der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt plötzlich Sorgen um die parlamentarische Existenz der Linken. Als der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, sprach, applaudierte die Unionsfraktion.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Zwar stimmte am Ende die Mehrheit des Bundestages mit den Stimmen der Ampelfraktionen für das neue Wahlrecht, das für die verkehrten Fronten sorgte. 400 Abgeordnete votierten für die Reform, 261 dagegen, 23 enthielten sich. Das Gesetz soll die Zahl der derzeit 736 Abgeordneten auf 630 reduzieren. So sollen nicht mehr alle Kandidaten, die die meisten Stimmen in einem Wahlkreis bekommen, ins Parlament einziehen; die mit den schlechtesten Resultaten fallen raus. Auch die Grundmandatsklausel wurde gestrichen.

Demnach muss jede Partei künftig mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen holen, um im Bundestag vertreten zu sein. Diese Regel kann auch durch direkt gewählte Abgeordnete nicht mehr ausgehebelt werden. Das bedroht sowohl die Linke als auch die CSU, die jede durchgreifende Reform jahrelang blockiert hatte, existenziell. Entsprechend hart wurde die Debatte geführt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Kommunismus“ oder „Schweinerei“: deftige Debatte mit vielen Zwischenrufen

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, sagte: „Das neue Wahlrecht ist ein Signal, dass sich das Parlament selbst nicht von Veränderungen ausnimmt.“ Es sei einfach, transparent und nachvollziehbar. Und die Fünfprozenthürde gelte nun für alle. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann erklärte: „In 15 Bundesländern tritt die CSU nicht an. Es kann nicht sein, dass die CSU als Regionalpartei diktiert, wie das Wahlrecht aussieht.“ In Bayern sei es im Übrigen selbstverständlich, dass keine Partei in den Landtag einziehe, die keine 5 Prozent der Stimmen erreiche.

Hauptstadt-Radar

Der Newsletter mit persönlichen Eindrücken und Hintergründen aus dem Regierungsviertel. Immer dienstags, donnerstags und samstags.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Der stellvertretende FDP-Fraktionschef Konstantin Kuhle erinnerte daran, dass zuvor viele Anläufe unternommen worden seien, das Wahlrecht wegen des Wucherns der Abgeordnetenzahl zu reformieren. Manche seien bereits in den Anfängen stecken geblieben, manche auf den letzten Metern gescheitert. Dabei habe die CSU dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble und seinem Vorgänger Norbert Lammert (beide CDU) die Reform „versaut“. Dies werde ihr jetzt nicht noch mal gelingen. Die Christsozialen müssten akzeptieren, „dass es an einem Tag mal nicht um die CSU geht“.

Die Reden der Koalitionsvertreter wurden immer wieder von Zwischenrufen unterbrochen. „Kommunismus!“, hieß es da, oder: „Schweinerei!“

Dobrindt: „Das ist keine Reform, sondern ein Akt der Respektlosigkeit“

Die Auftritte der Opposition waren nicht minder scharf. „Was wir heute erleben, das ist keine Reform, sondern ein Akt der Respektlosigkeit“, sagte Dobrindt und fügte hinzu: „Sie machen hier keine Reform an sich selbst, Sie machen eine Reform für sich selbst.“ Dies war vor allem auf die Tatsache gemünzt, dass Direktmandate vielfach von Unionskandidaten geholt werden. Der CSU-Landesgruppenchef befand ferner, die Reform fördere „nicht das Vertrauen in die Demokratie, das fördert Politikverdrossenheit“. Tatsächlich könnte es nach dem neuen Wahlrecht passieren, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl 46 Direktmandate holt und trotzdem niemanden ins Parlament entsenden kann, weil sie bei den Zweitstimmen – bezogen auf das gesamte Bundesgebiet – das Fünfprozentziel verfehlt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Bundestag zu groß: Umstrittene Wahlrechtsreform beschlossen
ARCHIV - 17.10.2017, Berlin: Der Plenarsaal des Bundestages wird für die konstituierende Sitzung umgebaut. Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 18. April über die umstrittene Wahlrechtsreform der Großen Koalition im Jahr 2020. Hintergrund ist der lange Streit um die Frage, wie der zu groß gewordene Bundestag gesundgeschrumpft werden kann. Keine Partei will dabei politisch an Einfluss verlieren. Ein Kompromiss, den alle mittragen wollten, war daher trotz mehrerer Anläufe nicht zustande gekommen. Schließlich hatten CDU/CSU und SPD im Alleingang eine Änderung beschlossen, die auch Experten für unzureichend halten. Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In letzter Minute bittet Unionsfraktionschef Merz um eine zweiwöchige Verschiebung.

Der Linke Korte warf den Ampelparteien „bigotte Arroganz“ vor und sprach vom „größten Anschlag auf die Grundpfeiler der Demokratie seit Jahrzehnten“. Offenbar gehe es darum, zwei Oppositionsparteien aus dem Bundestag zu verdrängen – und dabei insbesondere Ostdeutschland der AfD zu überlassen. Korte behauptete: „Ihre Wahlrechtsreform ist vergleichbar mit den Tricksereien der Trump-Republikaner.“ Und er schloss mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen politisch alles erdenklich Schlechte.“ Hätte das neue Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahl gegolten, wäre die Linke gar nicht mehr im Parlament und Korte hätte nicht reden können.

Merz-Bitte um Verschiebung der Abstimmung wird abgelehnt

Unionsfraktionschef Friedrich Merz bat am Schluss der Debatte um eine Verschiebung der Abstimmung um 14 Tage, um noch einmal Zeit für Besinnung und Beratung zu haben. Das lehnte sein SPD-Kollege Rolf Mützenich ab.

Noch während der Debatte kündigte der CDU-Abgeordnete Ansgar Heveling an: „Wir werden klagen!“ Nämlich beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Merz bekräftigte das später. Als sicher gilt, dass die bayerische Landesregierung eine Klage einreicht. Nach RND-Informationen soll die Frage, ob die gesamte Bundestagsfraktion eine Abgeordnetenklage unterstützt, bei der nächsten Fraktionssitzung diskutiert werden. Merz zeigte sich am Freitag zuversichtlich.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Noch vor wenigen Wochen waren insbesondere CDU-Abgeordnete nicht von einer Überprüfung in Karlsruhe überzeugt. Die CSU habe die Situation selbst verschuldet, hieß es bei einigen Christdemokraten. Doch der Wind hat sich seit der Streichung der Grundmandatsklausel gedreht. Sie sorge bei CDU-Politikern für „Solidarität“, sagt einer. Ein anderer spricht von einer „kampfesmutigen Stimmung“. Dass sogar Wolfgang Schäuble das neue Gesetz in dieser Form für verfassungswidrig hält, zeigt Wirkung.

Reform wird wohl in Karlsruhe landen

Die Entgegnung der Ampel, CDU und CSU könnten ja gemeinsam eine Liste aufstellen, um das Risiko eines Nichteinzugs der CSU zu minimieren, lehnen Christdemokraten wie Christsoziale ab. Das sei gesetzlich nicht möglich und komme deshalb nicht in Betracht. So dürften die Schwesterparteien auch kein Interesse an einer Gesetzesänderung haben, die Listenverbindungen ermöglichen würde.

Ein Bild, das man aus der Tagesschau kennt:Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe mit Professor Dr. Henning Radtke (links).

Dürften am Ende über die Wahlrechtsreform entscheiden: Die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht.

Wie Karlsruhe entscheidet, ist ungewiss. Gewiss ist somit nur, dass heute noch niemand weiß, welches Wahlrecht beim nächsten Urnengang 2025 gilt.

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

Spiele entdecken