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Warum Europas militärische Abhängigkeit von den USA für uns gefährlich ist

Kampfflugzeuge vom Typ Lockheed Martin F-22 Raptor der US-amerikanischen Luftwaffe.

Kampfflugzeuge vom Typ Lockheed Martin F-22 Raptor der US-amerikanischen Luftwaffe.

Liebe Leserin, lieber Leser,

zu Beginn dieser Ausgabe ein kurzer Blick zurück auf eine meiner Afghanistan-Reisen, es ist der Herbst 2010, ein Drohneneinsatz der Bundeswehr im nordafghanischen Bezirk Char Darah: Der Pilot steuert das unbemannte und unbewaffnete Flugzeug, um deutsche Soldaten im Feld vor potenziellen Hinterhalten zu schützen. Ich frage ihn, was er machen würde, sollte er Talibankämpfer entdecken. Seine Antwort: Er würde die Amerikaner rufen, die eine bewaffnete Drohne schicken und die Feinde ausschalten würden. Auch die deutsche Drohne hätte bewaffnet sein können, wäre der politische Wille dafür vorhanden gewesen (im kommenden Jahr – 14 Jahre später – soll die Bundeswehr nun bewaffnete Drohnen bekommen). Es ist ein besonders plakatives Beispiel dafür, wie sehr wir uns auf die USA verlassen – bei der Kriegsführung, aber auch bei unserer eigenen Verteidigung.

Das gilt seit Jahrzehnten besonders für Deutschland, aber auch für Europa insgesamt, und es gilt weit über das Ende des Kalten Krieges hinaus. Der Bosnien-Krieg etwa konnte 1995 nur mithilfe der USA beendet werden. In Afghanistan hat sich die Abhängigkeit besonders deutlich gezeigt: Als die USA unilateral den Abzug beschlossen hatten, war das Ende des Einsatzes 2021 besiegelt. Die Ukraine ist das jüngste Beispiel: Obwohl der Krieg mitten in Europa stattfindet, hätte das Land ohne die massive militärische Unterstützung der USA kaum eine Chance gegen die russischen Invasoren.

Afghanistan, Kandahar: Eine US-amerikanische Drohne vom Typ MQ-9 steht im Jahr 2018 während einer Flugschau auf dem Flugplatz von Kandahar (Afghanistan).

Afghanistan, Kandahar: Eine US-amerikanische Drohne vom Typ MQ-9 steht im Jahr 2018 während einer Flugschau auf dem Flugplatz von Kandahar (Afghanistan).

Offen ist, wie lange Europa noch in diesem Maße auf die USA bauen kann. Dass sich US-Präsident Donald Trump bei seinem ersten Auftritt bei der Nato im Mai 2017 nicht ausdrücklich zum Artikel 5 des Nato-Vertrags und damit zur kollektiven Verteidigung bekannte, brachte alte Gewissheiten ins Wanken. Dass Joe Biden den Republikaner Trump 2021 im Weißen Haus ablöste, war ein Glücksfall für die Nato – der US-Demokrat setzte alles daran, das Bündnis wiederzubeleben. Schon bei der Wahl im nächsten Jahr aber könnte Biden einem Republikaner unterliegen, womöglich sogar Trump selbst.

„Joe Biden könnte der letzte wirklich transatlantische Präsident der USA sein“, warnte das Magazin „Foreign Affairs“. Ob sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin wieder so bedingungslos zu Europa steht, ist alles andere als gewiss. Selbst wenn das so wäre, würde sich die Frage stellen, ob er oder sie dazu überhaupt in der Lage wäre: Sollten sich die Spannungen mit China etwa in der Taiwan-Frage zum offenen Konflikt auswachsen, müsste sich der Schwerpunkt des US-Militärs womöglich schnell und umfassend nach Asien verlagern. Die „Washington Post“ schreibt von „einer heraufdämmernden Zukunft, in der Washington seinen strategischen Blick auf China richten könnte“. Die Europäer wären in jedem Fall gut beraten, ihre militärische Abhängigkeit von den USA deutlich zu verringern – was auch im Sinne Washingtons wäre.

In den USA warnen schon einige, dass Joe Biden der letzte wirklich transatlantische Präsident sein könnte.

In den USA warnen schon einige, dass Joe Biden der letzte wirklich transatlantische Präsident sein könnte.

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ wäre dafür ein richtiger Schritt – wenn sie denn gelingt. Daran wachsen die Zweifel auch, aber nicht nur in den USA. „Deutschland ist eine historische Anomalie im Herzen Europas – wirtschaftlich ein Riese, militärisch aber ein kleiner Fisch“, schrieb das „New York Times Magazine“ kürzlich. „Jetzt verspricht die deutsche Führung, das Land in eine Militärmacht zu verwandeln, die in der Lage ist, Verantwortung für Europas Sicherheit zu übernehmen. Die Frage ist, ob sie – und eine zögerliche deutsche Gesellschaft – dieses Versprechen einlösen können.“ Deutschland, so urteilt das Blatt, habe dabei einen weiten Weg vor sich.

Bei allem Unsinn, den Trump in seiner Amtszeit von sich gegeben hat, hatte er in einem Punkt recht: Dass Deutschland und andere europäische Bündnisstaaten das selbst gesteckte Ziel der Nato, mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, seit Jahren verfehlen, ist kaum zu rechtfertigen. Trump war nicht der erste US-Präsident, der die mangelnden Verteidigungsausgaben der Verbündeten bemängelte – er war nur am lautesten.

Nur sieben der 30 Nato-Staaten erreichten Zweiprozentziel

Der in der vergangenen Woche veröffentlichte Jahresbericht der Nato macht deutlich, dass die Mängel andauern, obwohl die Bedrohung durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 offenkundig sein müsste. Die Verteidigungsausgaben der Bündnispartner in Europa plus Kanada stiegen im vergangenen Jahr zwar um 2,2 Prozent, das war aber der niedrigste Wert seit 2016. Nur sieben der 30 Nato-Staaten erreichten das 2014 vereinbarte Zweiprozentziel, Deutschland lag mit 1,49 Prozent erneut deutlich drunter. Während die USA 54 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aller Nato-Staaten ausmachten, lag ihr Anteil an den gesammelten Verteidigungsausgaben bei 70 Prozent. Bei Deutschland ist das Verhältnis umgekehrt: 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller Nato-Staaten wurden hier erwirtschaftet, aber nur 5 Prozent aller Verteidigungsausgaben kamen aus Deutschland.

Die USA tragen 70 Prozent der gesammelten Verteidigungsausgaben der Nato bei.

Die USA tragen 70 Prozent der gesammelten Verteidigungsausgaben der Nato bei.

Max Bergmann (vom Center of Strategic and International Studies) und Sophia Besch (Carnegie Endowment for International Peace) schrieben Anfang des Monats in der Zeitschrift „Foreign Affairs“, der Ukraine-Krieg „hat den erschreckenden Zustand der europäischen Verteidigung offenbart. Europa hat in den letzten 20 Jahren zu wenig in seine Streitkräfte investiert.“ Die Experten riefen zu tiefgreifenden Strukturreformen auf. An die USA appellierten sie, die Bündnispartner nicht nur zu höheren Verteidigungsausgaben, sondern zur europäischen Zusammenarbeit bei der Produktion und Beschaffung von Waffensystemen zu drängen. Wenn die Europäer nicht gemeinsam agierten, „wird der Kontinent seine übermäßige Abhängigkeit von Washington nie überwinden“.

Das sieht Jana Puglierin vom European Council on Foreign Relations (ECFR) ähnlich. Im „Handelsblatt“ schrieb sie im vergangenen Monat: „Die Europäer müssen es jetzt leisten, mehr und besser in ihre eigene Sicherheit und Verteidigung zu investieren, die Fragmentierung zu überwinden, auf die vollständige Interoperabilität ihrer Streitkräfte hinzuarbeiten, gemeinsam kritische Fähigkeitslücken zu schließen und eine belastbare, wettbewerbsfähige und innovative technologische und industrielle Basis für die europäische Verteidigung zu schaffen.“

Puglierin analysierte, in der Ukraine unterstützten die Europäer nur aus der zweiten Reihe, obwohl sich der Krieg vor der Haustür abspiele – und sie fühlten sich damit wohl. „Anstatt sich auf den Tag vorzubereiten, an dem Washington eine geringere Rolle in Europa spielen könnte, läuft derzeit alles auf eine noch größere Abhängigkeit vom Weißen Haus hinaus – politisch wie militärisch.“

Bis zur nächsten Ausgabe

Ihr Can Merey

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Zwei Leopard-Panzer auf einem Truppenübungsplatz. Die in die Ukraine gelieferten Kampfpanzer sind zu Beginn dieser Woche angekommen, bestätigte Kanzler Olaf Scholz.

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Russlands Präsident Wladimir Putin überreicht seinem Freund, dem Cellisten Sergej Roldugin, im Jahr 2016 eine Medaille während einer Preisverleihungszeremonie im Moskauer Kreml.

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